Wie man sich effizient und verletzungsfrei bewegt

Bewegungskontrolle

Bitte drehen Sie Ihren Kopf leicht nach links.

Wahrscheinlich stellt diese Bewegung keinerlei Herausforderung für Sie dar. Sie wirft allerdings eine wichtig Frage auf: Wie haben Sie das gemacht?

Wir sind nicht in der Lage, einzelne Muskelgruppen direkt anzusprechen („Muskeltonus im Sternocleidomastoideus links erhöhen um 17°“). Unsere Intention setzt die Bewegung in Gang. Für eine einfache Änderung der Blickrichtung benutzen wir unseren Körper – und die Repräsentation unseres Körpers im Gehirn.

Was der Körper ist, ist offensichtlich: Muskeln, Knochen, Sehnen, wie sie in leicht veränderter Form auch bei jedem Metzger zu finden sind. Er ist selbstverständlich eine Grundvoraussetzung für unsere Bewegungen – aber er allein reicht, wie das obige Beispiel zeigt, nicht aus. Ohne bewusste Intention und die Steuerung durch unser Nervensystem sind Bewegungen unmöglich oder nutzlos.

Diese Steuerungsmechanismen sind sehr wichtig für uns.

Sportler verfügen in der Regel nicht nur über eine gut trainierte Muskulatur, sondern auch über eine sehr gute Bewegungskontrolle – wer sein Körpergewicht auf einer Hand balanciert, muss sehr genau wissen, welche seiner Muskeln er anspannt, in welche Richtung seine Finger zeigen, und wie weit die Ellbogen sich beugen dürfen.

Wer dagegen nach einem Gegenstand greift und sich dabei nicht sicher ist, wann er seinen Arm im Schultergelenk rotiert, wann das Schulterblatt über den Brustkorb nach vorn gleitet, und wann der Arm durch eine leichte Drehung im Brustkorb unterstützt wird, neigt unter Umständen dazu, alle Körperteile „irgendwie“ zu bewegen – ausreichend, um einfach Handlungen durchzuführen, aber ineffizient und im schlimmsten Fall auf Dauer schädlich, weil falsche Muskelgruppen angespannt oder gehalten werden. Komplexe Bewegungen werden so oft unmöglich.

Nicht nur die Muskulatur, auch unsere Bewegungssteuerung lässt sich trainieren. 

Aber wie genau können wir uns das vorstellen?

Wie das Gehirn den Körper darstellt

In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts begann der kanadische Neurologe und Chirurg Wilder Penfield, die verschiedenen Gehirnregionen systematisch zu vermessen. Nach vielen Rückschlägen fand Penfield an der Zentralfurche des Gehirns einen Bereich, der heute als sensomotorische Rinde bezeichnet wird. Hier werden willkürliche Bewegungen koordiniert und aus einfachen Bewegungsmustern komplexe Abfolgen zusammengestellt. Dieses Gehirnareal steuert die Muskulatur nicht direkt an, wie ein Marionettenspieler, der die Fäden hält. Stattdessen wird hier sozusagen ausgeführt, was andere Systeme des Gehirns geplant haben.Die sensomotorische Rinde (zusammengesetzt aus sensorischer und motorischer Rinde) gilt als letzte Instanz der menschlichen Handlungssteuerung. Sie ist eng mit unserem Selbstempfinden und unserer Persönlichkeit verbunden.

Der Homunculus: ein Körper, der sich fühlt

Bei der sensomotorischen Rinde handelt sich um einen flachen Streifen des Gehirns, der ungefähr von einer Schläfe zur anderen Schläfe reicht.Er besteht aus zwei Arealen: der motorischen Rinde, die für bewusste Bewegungen zuständig ist. Daneben liegt die sensorischen Rinde, die Berührungen und andere Sinneseindrücke verarbeitet – entweder aus den Sinneszellen der Haut (Außenwahrnehmung)  oder aus Rezeptoren im Inneren des Körpers, die die Eigenwahrnehmung ermöglichen. In der sensorischen Rinde werden Berührung, Druck, Vibration und Temperatur, zum Teil gilt auch Schmerz empfunden.                                                                               

Motorischer Homunkulus

Körperwahrnehmung und Bewegung hängen damit untrennbar zusammen.

Der Körper ist im Gehirn wie eine Landkarte Punkt für Punkt abgebildet.

Allerdings stimmt die Größe dieser Hirnareale nicht mit der tatsächlichen Größe unseres Körpers überein. Entscheidend für die Größe der sensomotorischen Karten ist die Feinfühligkeit des jeweiligen Körperteils.
Wenn im Gehirn ein großes Areal für einen Körperteil zuständig ist, können die Reize Rezeptoren dieses Abschnitts, zum Beispiel der mit vielen Sinneszellen besetzten Zunge, besonders genau registriert werden. Dagegen nimmt der Bauch, der mit nur wenigen Rezeptoren ausgestattet ist, nur wenig Raum auf der somatotopen Karte ein. Den extrem beweglichen Fingern sind im motorischen Cortex mehr Nervenzellen zugeordnet als der Nase, deren Bewegungsmöglichkeiten begrenzt sind. Die so entstehenden Bilder bezeichnet man als sensorischen oder motorischen Homunculus (es gibt zwei davon, einen sensorischen und einen motorischen Homunculus).

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Die Plastizität des Gehirns

In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts führte der Neurowissenschaftler Michael Merzenich diese Arbeit fort. Mit wesentlich genaueren Messinstrumenten konnten Elektroden Veränderungen im Umkreis von wenigen Gehirnzellen registrieren.

Zu den faszinierendsten Entdeckungen, die er dabei machte, gehört die Erkenntnis, dass Empfindung und Bewegung enger zusammenhängen, als bisher angenommen. Diese somatotopen Karten scheinen nicht statisch zu sein: sie verändern sich auf Grund von Erfahrung und Empfindungen – ein Leben lang. Die Anlage dieser Körperkarten ist angeboren, im Detail sind sie aber ungemein flexibel. Nervenzellen vernetzen sich also nicht nur nach einem genetisch festgelegten Bauplan, sondern nach funktionalen, aktivitätsabhängigen Gesichtspunkten.

Ihre Entwicklung hängt ab von der Art unserer Erfahrungen. Jede bewusste neue Empfindung versetzt Gehirnzellen in Erregung und fördert die Bildung von neuen Verknüpfungen. Wenn ein sechs Monate altes Kind begeistert über Stunden mit seinen Füßen spielt oder mit den Fersen gegen den Boden trommelt, hat es nicht nur Spaß, es entwirft sich auch eine eigene Karte, ein Bild von sich selbst. Was wie sinnfreies Spiel aussieht, ist in Wirklichkeit ein hochkomplexer Lernvorgang.

Auch unsere somatosensorische Rinde spezialisiert sich. Ein Musiker wird ein detaillierteres – und größeres – Bild seiner Hände entwickeln als ein Schuhverkäufer. Ob ein Mensch mit seinen Augen oder Fingerkuppen liest, wäre bei genauer Untersuchung an der Größe der Fingerkarten des sensorischen Homunculus ablesbar. Jeder Mensch entwirft sein eigenes Körperbild aus der Summe seiner Erfahrungen.

Aber die Individualität unserer Körperkarten geht weit über die zu erwartenden persönlichen Prägungen hinaus. Es gibt Menschen, die mit zusammengewachsenen Fingern geboren werden, eine Erscheinung, die als Syndaktylie bezeichnet wird. Der Neurowissenschaftler Michael Merzenich untersuchte die somatotope Karte von zwei Testpersonen  mit Mikroelektroden und stellte fest, dass für die jeweiligen Finger nur eine große Karte vorhanden war: bei einer Berührung wurden beispielsweise beide Finger gleichzeitig erregt. Erst nach der chirurgischen Trennung der Finger und einem differenzierten Lernvorgang entstanden daraus zwei Körperkarten, für jeden Finger einen.Umgekehrt verlieren Sie nach einiger Zeit die Fähigkeit, ihre Finger differenziert zu bewegen, wenn Sie zwei Finger über einen längeren Zeitraum mit Klebeband zusammenbinden.

Undifferenzierte Bewegungsplanung kann Schmerzen und Bewegungseinschränkungen hervorrufen.

(Buchtipp zu diesem Thema: Neustart im Kopf, Norman Doidge)

Die Gummihand-Illusion

Bei gesunden Menschen liegen diese Bereiche – der mechanische Körper und seine Repräsentation im Gehirn – meist deckungsgleich übereinander, kleine Diskrepanzen fallen nicht auf.  Wenn allerdings einer der Bereiche verletzt wird treten sehr interessante Phänomene auf.

Durch Verletzung des Gehirns z.B. durch einen Schlaganfall entstehen Krankheitsbilder, wie Anonsognosie (ein Körperteil wird als nicht zugehörig empfunden) oder Neglect (offensichtliche körperliche Behinderungen werden geleugnet, die ganze rechte Seite des Körpers wird ignoriert. Das geht so weit, dass Betroffene nur eine Seite des Mundes schminken, oder nur eine Seite des Tellers leer essen).

Bei einer mechanischen Verletzung des Körpers (Verlust des Armes) kann die Repräsentation des betroffenen Körperteils erhalten bleiben. Wir erleben dann Effekte wie Phantomschmerzen oder Phantombeine. Körperteile müssen also noch nicht einmal vorhanden sein, um auf unseren „Karten“ dargestellt zu werden: die betroffenen Menschen können etwas spüren, von dem sie wissen, dass es nicht existiert. Bei seinen Forschungen über Phantomglieder konnte der Neurologe Dr. Ramachandran nachweisen, dass Menschen diese nicht vorhandenen Körperteile sogar zielgerichtet bewegen können, wenn sie ihr Spiegelbild sehen. Auch das Gegenteil ist möglich. Stillgelegte Körperteile – etwa nach einem Schlaganfall – fangen an, zu verblassen.

Dieses Video zeigt ein Beispiel der sogenannten „Gummihand-Illusion“: ein Mensch wird durch wenige Berührungsreize dazu gebracht, sich mit einer Gummihand zu identifizieren – sie in sein eigenes Körperbild zu integrieren – sichtbar durch seine Reaktion bei einer illusorischen „Verletzung“.

Was wir instinktiv voraussetzen – ein Körper, der sich fühlt und bewegen kann – ist keine Selbstverständlichkeit.

Sie können durch Feldenkrais Ihre somatotopen Karten beeinflussen.


Photo Jumping Boy Photo by Pavel Kalenik on Unsplash / Energy by Photo by HalGatewood.com on Unsplash

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