Schmerz verstehen: Es ist mehr als nur körperlich

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„Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.“ – Voltaire

Woher kommt der Schmerz?

Obwohl Schmerzen die Lebensqualität entscheidend beeinflussen können, wurde Schmerzen im Bereich der Medizin lange vernachlässigt. Erst 1975 fand der erste weltweite Kongress zu diesem Thema statt, und die Erkenntnisse der Schmerzforschung werden noch immer nicht ausreichend berücksichtigt.

Falls Sie unter Schmerzen leiden: Hier sind einige Fakten, die sie kennen sollten.

 Wie ich bereits in einem anderen Blogbeitrag geschrieben habe: Ein Körper, der sich fühlt, sich keine Selbstverständlichkeit.

Dasselbe gilt auch für Schmerz.

Auf den ersten Blick scheint der Zusammenhang klar: wir schneiden uns in den Finger, eine Wunde entsteht, wir fühlen Schmerzen. Damit setzen wir automatisch „Schmerzen“ mit „Schaden“ gleich. Doch so einfach ist es nicht.

Schmerz entsteht im Gehirn

Was uns auf den ersten Blick sehr erstrebenswert erscheint – ein Leben ohne Schmerz – ist in Wirklichkeit eine seltene und sehr gefährliche Krankheit.

Menschen mit einer angeborenen Schmerzunempfindlichkeit (kongenitalen Analgesie) fügen sich von Geburt an häufig selbst schwere Schäden zu, da die warnende Wirkung des Schmerzes entfällt. Lebensgefährliche Vorgänge wie beispielsweise eine Blinddarmentzündung bleiben so unentdeckt – und unbehandelt.

Schmerz ist ein unverzichtbares Signal des Körpers, das eine Handlung erfordert.

Sie haben Rückenschmerzen, der Nacken ist verspannt, ihre Kiefergelenke knirschen, Ihr Arzt hat eine Skoliose, Arthrose, Fibromyalgie oder chronische idiopatische Schmerzen diagnostiziert, oder sie leiden unter den Folgen eines Fahrradunfalls oder Bewegungsmangel in der Covid-Pandemie. Schmerz schränkt ihr Leben ein. Unabhängig von der Diagnose - wir beeinflussen die Intensität unserer Schmerzen.

Ob wir Schmerzen empfinden hängt nicht ausschließlich von unserem Körper ab – sondern von unserem Nervensystem und Gehirn. Es empfängt Informationen aus dem Körper und wertet sie aus – in einem aktiven Prozess. Ob und wie viele Schmerzen wir empfinden, hängt von dieser Auswertung ab, die von vielen Faktoren beeinflusst wird. Angst, Depression und Stress können die Stresstoleranz senken. Eine optimistische Erwartungshaltung oder psychologische Interventionen wie Hypnose und Entspannungstherapie oder das Gefühl, die Situation kontrollieren zu können, wirken sich dagegen positiv aus – und zwar unabhängig von der Ursache der Schmerzen. Neben der objektiven Stärke der Verletzung oder Erkrankung spielen also Faktoren wie Erinnerung, äußere Umstände, Erfahrung oder Angst eine Rolle, die darüber bestimmt, ob und wie große Schmerzen wir empfinden.

Schmerz ist also kein zuverlässiges Messinstrument, das uns Informationen  über das Ausmaß unserer Einschränkung gibt, sondern ein Signal, das uns zu einer Handlung auffordert – oder auch nicht.

Ursache ohne Schmerz …

Am 6. Januar 2014 erschien folgende Meldung in der Online- Ausgabe des Magazins Focus :

Chinese überlebt 8-Zentimeter-Nagel im Kopf

Beim Dekorieren seines Hauses hat sich ein Chinese einen acht Zentimeter langen Nagel in den Kopf geschossen. Unglaublicherweise hatte er den Unfall zunächst gar nicht bemerkt. Seine OP war jedoch alles andere als unkompliziert.

Man shoots nail into brain and thinks nothing of it

Dabei handelt es sich nicht um einen skurrilen Einzelfall; derartige Phänomene treten häufiger auf, meist in Zusammenhang mit schwerwiegenden Vorfällen wie Haiangriffen, militärischen Handlungen oder Motorradunfällen auf. Es handelt sich um einen weiteren Überlebensmechanismus – den Schock. Auch in Zuständen der Ekstase kann es zu Zuständen völliger Schmerzfreiheit kommen.

Der Körper ist also in der Lage, Schmerz wirkungsvoll zu unterdrücken, wenn er dem Überleben nicht dient.

Dieses Phänomen tritt auch in schwächeren Ausprägungen auf – beispielsweise im Leistungssport oder einfach, wenn sie zum Arzt gehen, und feststellen, dass ihre Beschwerden beim Betreten des Behandlungsraums verschwunden sind.

 … und Schmerzen ohne Ursache

Auch die andere Variante ist möglich: Sie können massive Schmerzen empfinden, obwohl ihr Körper unverletzt ist. Ein Beispiel sind die typischen „wandernden“ Blinddarmschmerzen. Obwohl der Blinddarm sich etwa einen Handbreit unter dem Bauchnabel auf der rechten Seite befindet, treten die Schmerzen oft zuerst in der Nähe des Bauchnabels auf und wandern im Lauf der Zeit nach unten. Die Erklärung für dieses Phänomen: im Lauf Ihrer Embryonalentwicklung lag der Blinddarm tatsächlich höher und verschob sich mit ihrem Wachstum nach unten. Die Schmerzen treten also an einer Stelle auf, an der Ihr Organismus Ihren Blinddarm vermutet. Er kann einen massiven, lebensbedrohlichen Schmerz empfinden – ohne ihr lokalisieren zu können. Er meldet den Schmerz an einem gesunden Körperteil.

Auch das Gegenteil ist möglich: sich langsam entwickelnde Blinddarmentzündungen können schmerzfrei bleiben – der Schmerz ist nie akut genug, um eine unmittelbare Handlung zu provozieren, und dringt deshalb nicht in das Bewusstsein. Dieses Fehlen von Schmerz kann tödliche Folgen haben.

Ein weiteres Beispiel für dieses Phänomen sind sogenannte Phantomschmerzen – Schmerzen in einem Körperteil, von dem der Betreffende weiß, dass es nicht einmal existiert.

Schmerzen können erlernt werden

Unglücklicherweise kann Schmerz erlernt werden und selbst Schmerzen erzeugen. Erinnern Sie sich an Pavlovs Hund? Der russische Forscher Ivan Pavlov läutete eine Glocke, wenn er den Hund fütterte, durch den Geruch des Futters wurde der Speichelfluss des Hundes angeregt. Einige Zeit später begann der Speichel bereits beim Klang der Glocke zu fließen, auch wenn der Hund nicht gefüttert wurde. Der Hund war konditioniert.

Dieses Phänomen kann auch im Zusammenhang mit Schmerzen auftreten. Je öfter Nervenzellen zusammen gereizt werden, desto schneller reagieren sie gemeinsam. Das hilft uns bei Lernen – gleichgültig, ob es sich um Klavierspielen handelt – oder das Empfinden von Schmerz.

Nervensysteme verhalten sich dabei ähnlich wie fließendes Wasser, Pfade im Schnee oder Wanderwege: je öfter ein Weg beschritten wird, desto deutlicher wird die Spur ausgetreten – und desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der nächste Fußgänger den bereits vorhandenen Weg einschlägt und weiter vertieft. Je intensiver und lang anhaltender der Schmerz ist und desto unausweichlicher die Situation scheint, desto größer ist die Gefahr einer Konditionierung: Der Schmerz löst sich von der Ursache.


Wenn Sie beispielsweise an Ihrem Arbeitsplatz belastenden Situationen ausgesetzt sind – stundenlangem Sitzen, Heben, psychischem Stress wie Mobbing – können Sie die daraus entstehenden Schmerzen mit ihrem Arbeitsplatz gleichsetzen (wie Pavlovs Hund „Glocke“ und „Futter“). Schmerzen können dann unglücklicherweise selbst dann auftreten, wenn der schmerzauslösende Faktor  – wie Arbeitsüberlastung, Angst vor Entlassung oder der mobbende Kollege – verschwunden sind. Es genügt im ungünstigsten Fall, Ihren Arbeitsplatz zu sehen oder nur daran zu denken. (Diese Phänomene treten nicht nur im Bereich der Arbeitswelt auf, auch Hausfrauen oder Rentner, die sich in ihrer Arbeit nicht anerkannt fühlen, sind betroffen).

Kein Wunder, dass „Unzufriedenheit mit dem Arbeitsplatz“ ein wichtiger Indikator für Schmerzen ist. In den acht Jahren, in denen ich persönlich unter chronischen Schmerzen litt, wurde ich kein einziges Mal danach gefragt.

 Zusammenfassung

  • Schmerz ist ein lebenswichtiges Signal unseres Körpers

  • Das Nervensystem verfügt über diverse Möglichkeiten, unser Schmerzempfinden zu justieren.

  • Schmerz ist kein objektiver Indikator für das Ausmaß einer Verletzung oder Erkrankung

  • Neben physiologischen Gründen spielen Faktoren wie Angst, Erwartungshaltung und Selbstbestimmung eine wichtige Rolle in unserem Schmerzempfinden.

  • Schmerz kann sich von seiner Ursache lösen.

Dass Schmerzen auftreten, ist nicht ungewöhnlich, sie sind Teil unseres Lebens.  Körper sind allerdings in der Lage, sich selbst zu heilen, das Signal „Schmerz“ wird damit überflüssig – und sollte verschwinden. Wenn ihre Schmerzen über längere Zeiträume anhalten und kein ausreichender Grund dafür gefunden werden kann, sollten Sie bedenken, dass ihre Schmerzempfindung gestört sein könnte – und nicht ihr Körper.

In dem Beitrag “5 Strategien gegen den Schmerz” beschreibe ich einige Faktoren durch die Sie Ihren Zustand selbst beeinflussen können.

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